Interview | Architektin Christine Remensperger über Räume zum Entdecken
Christine Remensperger ist Architektin und Professorin für Entwerfen und Baukonstruktion an der FH Dortmund. Im Interview berichtet sie, worauf es beim Bau von Kitas und Schulen ankommt, wie man Räume zum Entdecken schafft und warum leise, unaufgeregte Gebäude etwas zu erzählen haben.

Was hat Sie inspiriert, Architektin zu werden?
Christine Remensperger (CR): Es war der Drang, etwas zu gestalten, der mich zu meiner Lehre als Raumausstatterin gebracht hat. Eine andere Idee war, Floristin zu werden – die Bezahlung hat damals keine Rolle für mich gespielt und es gab auch keine familiären Vorbilder. In der Lehre habe ich wenig nach meinen eigenen ästhetischen Vorstellungen gestalten können und habe daher schnell habe gemerkt: Das erfüllt mich noch nicht. Die Themen Ästhetik, Ordnung und Schönheit haben mich innerlich immer schon begleitet. Mit dem Drang selbst zu gestalten habe ich dann meine Hochschulreife nachgeholt und studiert.
Sehen Sie sich zuvorderst als Architektin oder als Professorin?
CR: Das ist schwer zu beantworten. Erstmal bin ich mit Leib und Seele Architektin. Ich bin als Architektin zur Berufung an die Hochschule gekommen und um in der Lehre am Ball zu bleiben, braucht man auch die Praxis. Die ist leider nur noch eingeschränkt und erschwert möglich. Ich würde gerne mal wieder ein Projekt machen, das muss aber auch vereinbar sein. Die Kita war zum Beispiel ein solches Projekt, das ich nebenbei machen konnte. Zwar ohne Mitarbeiter, dafür aber mit einem Bauleiter, auf den ich mich verlassen konnte. Innerlich bin ich Architektin – mein Steuerberater sagt, ich sei hauptberuflich Professorin. (lacht)

Was ist das Wichtigste, was Sie Ihren Studierenden für deren Entwürfe mitgeben wollen?
CR: Eine Haltung zu vermitteln, die man selbst auch lebt, sehe ich als das Fundament für die jungen Menschen in der Ausbildung. Dazu gehört es auch, klarzumachen, wie verantwortungsvoll so ein Beruf ist. Architektur ist kein Bereich, den man eliminieren kann. Die gebaute Umwelt ist ähnlich systemrelevant wie die Medizin. Wir leben heute mit vielen Fehlern der 60er- und 70er-Jahre und beschäftigen uns damit, wie wir damit umgehen.
Der zweite Aspekt ist für mich, Zeitlosigkeit als Nachhaltigkeitsindex zu betrachten. Bauhaus ist immer noch aktuell und immer noch gern besucht. Statt modischen Strömungen hinterherzurennen, sollten für jeden einzelnen Ort und jede Aufgabe die angemessenen Mittel gefunden werden, die sich aus dem Ort, dem kulturellen Kontext und den dortigen Ressourcen entwickeln. Wir haben ein bisschen verlernt, identitätsstiftend zu bauen. Die Architektur hat dann nichts mehr mit dem Ort zu tun und ist austauschbar. Mich stört, dass heute vermehrt sinnentleerte Hüllen entstehen, die aufgesetzt und aufgeregt wirken und eigentlich weltweit austauschbar sind. Hiervon sollten wir Abstand nehmen.
Wie sieht die Alternative aus?
CR: Ein guter Entwurf entwickelt sich über den Prozess und nicht über vorgefertigte, vom Mainstream geprägte Bilder. Ich habe immer den Sinn für verborgene Ordnung und Harmonie verknüpft mit einer hohen Ästhetik verspürt – und gelehrt. Für mich gibt uns ein Gebäude immer auch etwas Emotionales, etwas Poetisches, eine innere Schönheit. Es ist wie beim Hören eines Musikstückes, das einen berührt: Menschen, die Gebäude besuchen, erleben eine ähnliche Sinnlichkeit, sie spüren eine gute Ausstrahlung der Räume.
Wir beschäftigen uns in der Lehre auch mit der Frage: Warum gefällt es den Leuten in mittelalterlichen Städten so gut, an denen wir zum Beispiel authentische, gewachsene Häuser vorfinden? Diese Orte sind mit einfachen, wenigen Mitteln aus regionalen Materialien gebaut. Es ist die Reduktion auf Materialien und Formen, die uns beruhigt und fasziniert. Es ist die Stille und die Unaufgeregtheit, die wir als Gegenpol zu einer überfrachteten, immer komplexeren Welt suchen. Wand, Dach und Boden sind dort oftmals aus einem Guss.
Ein guter Entwurf hat auch immer mit dem Ort, der Aufgabe und den Gegebenheiten, dem Kontext, zu tun. So war es auch beim Haus am Rotenberg: Der Vorgängerbau war ein Fachwerk-Ziegelhaus, dadurch war Ziegel schnell ein Thema für mich. Da habe ich mich zum ersten Mal mit monolithischem Bauen beschäftigt – ich wollte kein Wärmedämmverbundsystem – und das damalige Ziegelzentrum Süd hat mich sehr gut beraten. Diese Erfahrung mit dem einfachen Bauen ist dann die Inspiration für die Kita Untertürkheim geworden.


Worauf kommt es beim Bau einer Kita oder einer Schule an? Welche Rolle spielen Materialien, Farben und Formen?
CR: Ein schwedisches Sprichwort besagt: „Für eine gute Schule braucht es drei Dinge: gute Lehrer, gute Schüler, gute Räume.“ Das wird häufig missverstanden als: „Wir sollen eine kindliche Welt bauen.“ Beim Bauen für Kinder geht es aber vielmehr darum, spannende und neutrale Räume zu schaffen, die von den Kindern entdeckt werden können. Dazu müssen sie vielfältige Raumerfahrungen bieten, wie hoch und nieder, klein und groß, weit und eng oder unterschiedliche Lichteinfälle. Farbe, Form und Material sind vorzugsweise reduziert, denn dies bringen die Kinder selbst schon mit.
Deswegen habe ich beim Bau der Kita die Dachräume so gestaltet, dass sich die Kinder dort austoben können. Auch das Treppenhaus wird mitbespielt. Die Farbe Rot – wie die der Dachziegel – war schnell gesetzt. Der Rest ist weiß, Holz oder Beton. So entstehen Räume, die sich die Kinder erobern können und gleichzeitig eine heimelige Atmosphäre ähnlich einem Wohnzimmer bieten.
Das Kita-Gebäude steht auch im Kontext der vielen verputzten Häuser in der Umgebung: einschalig, einfach, monolithisch. Es hat eine ähnliche Haltung wie das kleine Haus. Es ist klassisch gebaut – wie das „Haus vom Nikolaus“. Es gibt Studien, die zeigen, dass Kinder auf der ganzen Welt immer die klassische Hausform inklusive Kamin und Wolke malen, wenn sie ein Haus zeichnen sollen.
Was macht für Sie eine gute Wirkung von Architektur aus?
CR: Wenn diese selbstverständlich wirkt und sich nicht erklären muss. Meist gelingt dies, wenn subtil-identitätsstiftende Merkmale wie regionales Material, Ornamente und Details zu finden sind. Ich arbeite sehr typologisch, schaue den Ort genau an. In Untertürkheim sieht man häufig Gebäude, in denen der Sockel große Schaufenster hat und belebt ist, während sich oben der Wohnbereich befindet. Analog habe ich die Kita gestaltet: Unten befindet sich ein offener Essbereich, darüber die Gruppenräume mit unterschiedlich behandelten Fenstern: niedrigere für die Kinder und besondere Gitter mit Bezug zur handwerklichen Tradition. Auch auf die einfache Konstruktion kommt es an: Monolithische Ziegelbauweise mit mineralischen, diffussionsoffenen Putzen innen und außen ermöglichen ein gutes Raumklima.

„Es sind nicht die lauten, sondern die leisen Gebäude, die uns etwas erzählen.“
––– Christine Remensperger

Sie lehren die analytische Betrachtung von Gebäuden. Von welchem Gebäude haben Sie selbst am meisten gelernt?
CR: Mein Chef, Klaus Mahler, hat immer gesagt: „Wenn Sie zwei Gebäude nebeneinander betrachten, dann ist meistens das unaufgeregtere das bessere.“ Von ihm habe ich viel gelernt. Es sind nicht die lauten, sondern die leisen Gebäude, die uns etwas erzählen. Und es sind die wirklich authentischen Materialien, die Menschen berühren. Kunststoffoberflächen können das nicht – da sie nicht altern können. Deswegen sind es die archaischen, einfachen Häuser, von denen man am meisten lernen kann. Auf einer Wanderung in Tessin habe ich Häuser gesehen, die wie Findlinge aus dem Berg wachsen. Die sind so selbstverständlich. Sie erklären sich von selbst.
Als ich privat in Rom war, hat mich das Pantheon fasziniert. Alle Themen, die wir heute diskutieren, sind damals vor 2500 Jahren schon vorhanden gewesen: von der Materialität über die faszinierende Konstruktion ins Detail bis hin zur Proportion und Ästhetik mit einer atemberaubenden räumlichen Atmosphäre. Sogar die Wiederverwendung von Material findet man: Es wurde zusammengeflickt aus Abbruchziegeln, altes Material wurde eingeschmolzen und daraus neue Türen gegossen. Kreislaufdenken gibt es schon lange, wir haben es nur verlernt, dadurch dass wir im Überfluss leben.